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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Peripher. Gespräch mit Andreas Tschersich, 25.05.2009.

Zuerst das Biografische.

Nach dem Vorkurs an der Bieler Schule für Gestaltung wurde ich in die Grafikfachklasse Biel aufgenommen und konnte meine Ausbildung 1997 abschließen.

Wolltest Du zuerst Maler werden?

Ich wollte eigentlich zuerst malen. Der Vorkurs war offen und man konnte ausprobieren. Ich hatte zwar schon fotografiert, mehr schlecht als recht, im Nachhinein beurteilt. Malerie und Grafik wurden jedoch intensiver vermittelt. Das machte Spaß. Ich stand aber ganz am Anfang, hatte noch nie ein Thema recherchiert, geschweige denn ausgearbeitet.

Was wurde gemalt?

Gegenständliches, von der Fotografie ausgehend, in Richtung Fotorealismus. Mir ging es dann in erster Linie um urbane Orte. Eines meiner Gemälde zeigt eine Glasgower Hochhaussiedlung aus Satellitensicht. Ein großformatiges Bild. peripher A (Red Road, Glasgow), 2006 (http://www.tschersich.ch/peripherA.html).

Deine Malerei bezieht sich auf Orte und Umgebungen?

Ja. Dieses Thema der urbanen Orte ging ich schon damals in verschiedenen Medien an. Ich fotografierte auch in Schwarzweiß, doch empfand ich das nicht als ausreichend, weshalb ich zur Farbe überging. Gerade wenn die Sonne scheint, ergibt sich ein intensives Spiel aus Licht und Schatten, die das Motiv zu stark überlagern.

Der Modus der Darstellung überlagert das Dargestellte.

Die Oberfläche, das Schwarzweiß, das war mir zu dominant. Bei Bernd und Hilla Becher fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatten immer bei diffusem Licht fotografiert, um das Objekt als solches ...

... sich selbst abbilden zu lassen ...

... oder in der reineren Form herauszuarbeiten. Mir fällt es im Sommer schwer zu fotografieren. Das Objekt kommt im Sonnenlicht zu schwach heraus.

Da kommen wir sogleich ins künstlerische Gestalten. Darf ich vorher noch kurz nachfragen: warum lebst Du jetzt im Ausland?

In Biel arbeitete ich als Designer. Da war es schwer, die künstlerische Fotografie in angemessener Form weiterzuverfolgen. Es gab allerdings immer schon den Wunsch, ins Ausland zu gehen, und in meinem Fall fühlte ich, dass nun die letzte Chance dazu bestand. Ich war schon über dreißig, aber Berlin war mir bekannt, ich kannte es vom Fotografieren, und mein Vater kommt aus Deutschland: der Weggang war für mich eine Reise zu den Wurzeln.

Worin bestand die fotografische Bekanntschaft mit Berlin?

Im Thema. In urbanen Orten. Berlin hat viele spannende Orte. Die Stadt ist zerrissen. Das hat mich immer schon angezogen.

Zerrissenheit ist also ein Kennzeichen urbaner Orte?

Zum Teil. In Berlin ist das schon sehr charakteristisch. Es gibt so viele löchrige Stellen.

Gilt das auch für andere Städte?

Ja. In den letzten Jahren bereiste ich verschiedene Orte. Durch das Schwinden der Industrie entstanden Brachen, Orte, die nicht mehr gebraucht werden, Orte, die umgenutzt werden, Orte, die einfach verwahrlosen. In Liverpool ist das extrem. Dort sind das riesige Areale.

Und das ist ein weiteres Kriterium für dein Interesse? Umnutzung, Nichtnutzung, Verwahrlosung, der Verlust des ursprünglichen Gebrauchs?

Das finde ich schon. Interessant sind Orte, an denen man sieht, was passierte. Es geht mir auch darum, Geschichten zu erzählen. Es handelt sich ja oft um Orte, die etwas erlebt haben.

Berlin hat etwas erlebt?

Definitiv.

Taucht das auch in deinen Bildern auf?

Seit ich in Berlin bin, fotografiere ich nicht mehr in dieser Stadt, weil die unmittelbare Notwendigkeit dazu nicht mehr besteht. Man kann ja jederzeit zum Fotografieren ausziehen. Und das, obwohl mir immer wieder Orte auffallen, die man fotografieren müsste ... Ich war, bevor ich dorthin zog, oft tiefer im Osten, um zu sehen, wie die Orte sich veränderten. Noch spannender ist der Vergleich zu anderen Städten. Auf Berlin bezogen finde ich ... - Im Vergleich zu anderen Städten war in Berlin noch relativ viel Geld da. Bauten wurden abgerissen oder renoviert. Anderswo ging das nicht, Gebäude blieben stehen, Orte wurden gefährlich. Aber man kann natürlich nicht bloß von Äußerlichkeiten darauf schließen, dass es sich um gefährliche Orte handelt. Wenn man in der Schweiz sozialisiert ist, hat man bisweilen das Gefühl, woanders sähe es etwas heruntergekommen aus.

Was ist Dein Kriterium für einen erzählenden Ort?

Plattenbausiedlungen faszinierten mich immer wieder. Doch gute Fotografien habe ich davon nie hingekriegt. Vielleicht sind die Geschichte zu einfach gestrickt. Da war Land, da hat man Häuser hingebaut, die Häuser sind heute heruntergekommen.

Geschichte hat sich nicht genug verdichtet?

Ja. In Charleroi ist das z.B. ganz anders. Da sieht man, wie dieser Ort gewachsen ist. Er hat seine besten Tage vielleicht schon gesehen. Wie geht es weiter? Man kann aus dem Ort mehr herauslesen, er ist spannender, erzählt mehr.

Protagonisten gibt es nicht in deinen Bildern. Menschen die den Ort bevölkern und in Handlungen gefasst werden? Deine Bilderzählungen sind nicht figürlicher Art?

Nein. Personen spielen keine Rolle.

Suchst Du Orte ohne Personen?

Nicht speziell ...

Würdest Du Personen mit ins Bild nehmen?

Grundsätzlich schon, aber ist das nötig? Oft ist es so, dass ... - das Problem ist, dass, wenn man Personen im Bild hat, man sofort den personellen Zugang sucht. Aufgrund der Person, nicht aufgrund des Ortes, versucht man auf die Dinge zu schließen. Ich möchte aber den Ort vorstellen. Den Ort zu dem Moment, in dem ich da war. Zeigen, wie sich der Ort zu diesem Zeitpunkt darbietet. Und das für den Betrachter erschließbar machen.

Die Charakterisierung des Ortes zu suchen und den Ort sich darstellen zu lassen - das steht doch eigentlich im Widerspruch zum Begriff des terrain vague, den du benutzt.

Ich kann da keinen Widerspruch erkennen. terrains vagues sind Orte, die nicht mehr genutzt werden. Victor Hugo brachte den Begriff ins Spiel, als er Bahngeleise im Kopfsteinpflaster beschrieb, bewachsen mit Unkraut und Gras. Natur erobert sich Stadt zurück. Das passiert oft an diesen Orten.

In peripher 489 (Charleroi) aus dem Jahr 2006 gibt es Unkraut. Geht es darum (http://www.tschersich.ch/peripher489.html)?

Ja.

Auch in peripher 130 (Berlin), 2005, greifen Bäume in den roten Stadthimmel (http://www.tschersich.ch/peripher130.html).

Wobei die bewußt gepflanzt wurden, um den Ort freundlich zu machen. Man beachte die Künstlichkeit im Kontext.

In peripher 993 (Stockholm), 2008, sehen wir einen Randbewuchs an der Autobahn. Ist der für Dich eine Freundlichmachung, die nicht gelingt (http://www.tschersich.ch/peripher993.html)?

Die Bepflanzung wurde ja irgendwann einmal angelegt. Man dachte sich etwas dabei. Und irgendwann merkte man, dass die Dinge aufgrund fehlender Mittel außer Kontrolle geraten.

Architektur, oder nur Vegetation?

Beides. Irgendwann stehen die großen Bäume nicht mehr im ursprünglichen Verhältnis zum Ort. Man hatte ja ideale Vorstellungen, nach denen man bepflanzte. Da ging es um optimale Proportionen. Etwas wurde geplant und geriet doch aus den Fugen.

Reicht es aus, periphere Flächen, Durchgangsorte, Orte, die ihre Funktion verloren haben, vegetabil zu möblieren?

Das ist schwierig zu beantworten.

Deine künstlerische Arbeit beinhaltet also nicht das Anprangern von Verhältnissen?

Es geht um das Aufzeigen. Nicht alle Dinge laufen in die richtige Richtung. Ich mache jedoch keine politische Kunst. Doch durchaus geht es mir um eine kritische Befragung.

Die Aufgabe des Künstlers besteht also im Aufzeigen und Hinterfragen, mit bildnerischen Mitteln?

Es gibt viele politische Fotografen mit einfach Arbeiten, bei denen man auf den ersten Blick erkennt, worum es geht. Solche Bilder verlieren schnell ihren Reiz. Wenn es eine Serie ist, weiß man nach dem dritten Bild, worum es geht. Dann schaut man sich das Bild schon gar nicht mehr richtig an. Man bleibt auf der Oberfläche. Ich möchte das anders machen. Betrachter meiner Bilder meinen, sie wüßten nicht, worum es ginge. Das ist keine bewußte Verunsicherung, die ich da betreibe. Aber ich empfinde es als Kompliment, dass die Leute sich meine Bilder anschauen, um etwas zu suchen. Ich denke, das erhöht die Verweildauer beim Bild.

Ist die Verweildauer für Dich eine Kriterium für ein gutes Portrait?

Schon. Kunst soll offen sein, nicht zu sehr festgelegt - gerade in der Fotografie. Denn da hat der Betrachter ja immer irgendwie das Gefühl, das, was er sehe, sei wirklich da, weshalb er es dann nicht mehr zu hinterfragen bräuchte.

Deine Bilder zielen auf Hinterfragung, auf das genaue Hinschauen?

Ja. Die Orte, die ich darstelle, sind selten repräsentativ, man geht an ihnen vorbei, richtet auf sie kein Augenmerk, und es ist daher schon eines meiner Anliegen, zu zeigen, was man alltäglich sieht, worüber aber man nicht mehr nachdenkt. Da spielt auch das Format eine Rolle, der Detailreichtum.

An den zentralen Attraktionen populärer Innenstädte geht man aber doch auch gedankenlos vorbei!

Die meisten Einwohner einer Stadt halten sich in peripheren Gebieten auf, nicht im unmittelbaren historischen Stadtzentrum. Durch die Gentrifizierung der letzten Jahre ist es den meisten Anwohnern nicht mehr möglich, im Zentrum zu leben, also werden sie in die Peripherie gedrängt. Und dort spürt man das wahre Leben auf, kann man zeigen, wie die Menschen leben. Nicht nur immer die gleichen Warenhausketten und die austauschbaren Stadtzentren. Je glamouröser die Innenstadt ist, umso schlimmer sieht es in den Vororten aus. In Glasgow erstaunt es niemanden, dass die Vororte verwahrlosen. In Edinburgh, der Vorzeigestadt Schottlands, würde man das nicht erwarten. Charleroi liegt im Süden von Brüssel, ist eine klassische industrialisierte Arbeiterstadt, es gab Kohlevorkommen, ein Stahlwerk. Wie in der ganzen Wallonie ging es in den 1970er Jahren mit Industrie und Kohleförderung bergab. Viele sind weggezogen. - Der Kern von Charleroi ist mittelalterlich. Nicht groß, etwa 20000 Menschen leben in der Altstadt. Insgesamt zählt Charleroi 200000 Einwohner. Vielleicht ist Charleroi gar keine Stadt im eigentlichen Sinn. Es gibt ja nur verstreute Eingemeindungen. Überwiegend Flamen sind da in die Wallonie gezogen. Dadurch entstanden diese Siedlungen überhaupt erst. Diese drittgrößte Stadt Belgiens hat also überhaupt nichts Großstädtisches in ihren wilden Ansiedlungen. Nur durch das Kohlevorkommen intensivierte sich die Industrie. War das eher ein Glück oder ein Unglück für den Ort? Die Leute wurden ja reich an diesem Ort, und die Stadt hatte bestimmt ein gutes Ansehen, doch 100 Jahre später ist das Gegenteil der Fall. Wäre die Kohle nicht dagewesen, wäre Charleroi zwar eine Stadt mit etwas weniger Geschichte, könnte als touristischer Ort jedoch vielleicht etwas mehr hergeben.

Leidet Charleroi an einer Krankheit, der Industrialisierung? Ist die Zersiedlung ein Sündenfall?

Der Begriff Sündenfall ist zu stark. Das alles passierte ja nicht bewußt. Und solche Entwicklungen haben überall dort stattgefunden, wo es Kohle gab ...

Liegt darin das Problem: dass die Industrialisierung und die Zersiedlung nicht bewußt erfolgten?

Wahrscheinlich. Im ganzen Stadtgebiet von Charleroi gibt es 139 sog. terrils, Bergehalden. Die prägen die ganze Landschaft. Es ist ja so: die Leute siedelten der Industrie nach, nicht umgekehrt. Industrie passt sich nicht den Siedlungen an. Industrie wächst, und Siedlungen entstehen ...

... und es herrscht Beiläufigkeit. In Ungedanken werden hunderte Bergehalden aufgeschüttet, hier, da, ohne Raumplanung, eben, Menschen leben zwischen Schutthalden.

Ja. Und die Siedlungen zwischen diesen Halden haben das Pech gehabt, irgendwie übriggeblieben zu sein.

Während die Industrie weg ist. Der Kohleabbau erfolgte unter Tage, von der Industrie hat man außer dem Schutt ja nicht viel mitbekommen. Man lebt im Abfall.

In der Regel bleibt ein Förderturm stehen, ist Museum. Aber bis auf den Abfall ist in der Regel nicht mehr viel zu sehen.

Eignet dem musealen Förderturm ein Ruch der Verzweiflung? Man möchte mit dem wenigen, was man hat, sich selbst erklären, sich eine Identität geben, die man - Bauern zogen der Arbeit hinterher - vorher nicht hatte?

Ja. Aber man konnte die wirtschaftliche Entwicklung nicht vorhersehen. In Polen werden heute Fördertürme aufgrund des Bedarfes an Kohle wieder in Betrieb genommen. Zum Glück fehlte vorher das Geld für den Abbruch. So hat es eine Wendung genommen, Kohle wurde wieder interessant, und für die Menschen, die dort leben, ist das positiv. In Lüttich wird wieder Stahl produziert. Die Inbetriebnahme des dortigen Hochofens ist trotz der Umweltfolgen ein wichtiger Aspekt für die Region.

Ist Beiläufigkeit, das Zersiedeln in Ungedanken, das Einbrechen der Verwahrlosung ein anderes Kriterium für Peripherie?

Was oft Gegenstand meiner Arbeit ist, das sind Siedlungen, die in den 1960er Jahren entstanden, und da ist in Europa massiv sozialer Wohnungsbau betrieben worden, der im Prinzip heute als gescheitert gilt. In Großbritannien, in Schottland, in Glasgow habe ich das besonders stark erlebt. Damals sah man towel blocks als Lösung aller Probleme an, ...

... hatte man doch Zentralheizung, fließendes Warmwasser, Toiletten in der Wohnung, Dusche, Bad, isolierte Fenster, ...

... und 20 Jahre später war klar, dass dieses Konzept gescheitert war. So extrem wie in Glasgow habe ich das bisher selten erlebt, dass man nämlich nicht einmal 20 Jahre vorausdenken kann. Natürlich hat das immer verschiedenste Gründe. Solche Siedlungen in Asien scheinen ja zu funktionieren. Vielleicht gehen die Menschen dort pragmatsicher damit um. In Schottland jedenfalls reißt man nun die Hälfte dieser Gebäude ab und baut Siedlungen mit drei oder vier Stockwerken, weil man denkt, das funktioniere besser. Anscheinend ist die Form des Hauses das Problem - eine naive Auffassung. In Edinburgh gibt es Gebiete, in denen zum vierten Mal neu gebaut wird. Alte Siedlungen funktionieren nicht, die Leute ziehen weg, die Brennpunkte werden vernagelt, abgerissen, neu errichtet.

Ist die Bestandsaufnahme solcher Probleme ein Grund dafür, dass Du in deinen Bildern möglichst wenig manipulieren möchtest?

Ich denke schon. Mir ist der Charakter der Orte wichtig. Ich bin ja nur kurz vor Ort, wenn ich ihn bereise. Doch diesen Moment will ich möglichst so zeigen, wie er ist. Manipulationen sind nicht nötig. Die Orte erzählen genug, ohne dass ich meinen Stil hinzufügen müsste. Ich muss keinen künstlerischen Aspekt an den Ort herantragen.

Mit Manipulation könnte man auch akzentuieren ...

Natürlich bin ich mir bisweilen auch nicht mehr sicher, ob ich nicht doch manipuliere. Meine Bilder sind ja Montagen aus Einzelbildern, und da manipuliere ich automatisch. Wie weit kann oder will man gehen? Es gibt immer Argumente dafür oder dagegen, etwas aus Bildern herauszuretuschieren oder es weitestgehend bei den ursprünglichen Aufnahmen zu belassen.

Ist auch das Ausrichten der Perspektive eine Manipulation?

Eher weniger. Ich denke, dass man den Ort mit Einzelbildern, die später zu einem großen Gesamtbild montiert werden, so erfassen kann, als ob man selbst anwesend wäre. Im Vergleich dazu liefert eine Einzelfotografie mit einer Großformatkamera ein extrem konstruiert wirkendes Bild, in dem die Perspektive eine zu starke Ausdrucksqualität erhält. Die Totale des Weitwinkels entfernt sich vom menschlichen Hinsehen einfach zu weit.

Weil man mit dem Weitwinkel einen zu großen Bildausschnitt auf einmal erfassen würde?

Ja. Ich habe immer vergleichsweise viel Vordergrund im Bild, weil ich so das Bild hinsichtlich seiner Zugänglichkeit verorten kann. Der Vordergrund ist mir wichtig, weil der auch erzählt, wie der Ort entstanden ist. Andererseits habe ich immer auch viel Himmel im Bild. Der Ort ist so für mich zwischen Himmel und Vordergrund eingebettet. Ein knappes Gebäudedetail sagt für mich mit seinem kleinen Ausschnitt Himmel wenig darüber aus, welches Klima irgendwo herrscht. Wenn ich dem Himmel mehr Platz einräume, wird der Ort auch durch sein Wetter charakterisiert. Darin unterscheidet sich meine Fotografie von einer reinen Architekturfotografie, weil ich ja nicht reine Bauformen zeigen will, sondern eine Gesamtszene.

Doch in dieser Gesamtszene hat die Architektur eine eigenständige Bildfunktion. Diese verschwände bei Verwendung eines Weitwinkels an einer Großformatkamera, weil der der Hintergrund zugunsten von Objekten im Vordergrund bzw. zugunsten des Vordergrundes selbst zurücktreten würde ...

Es soll ja ein Gesamtbild sein, das möglichst viel über möglichst vieles am betreffenden Ort aussagt. Die Technik soll die Dinge so herausstellen, dass ihre Charakteristik für einen Ort deutlich wird.

Die Technik besteht darin, dass du von einem bestimmten zentralen Punkt aus auf alle Dinge am Ort Deine Blicke richtest und dass du die neun entstehenden Einzelbilder - drei für den Himmel, drei für den Horizont, drei für den Vordergrund - zu einem einzigen großen Bild zusammenfügst, das dann aus jenen Einzelblicken besteht, die du auf die Dinge gerichtet hattest.

Wobei man natürlich nicht die neun Blicke in ihrer Individualität sehen soll, sondern das zusammengefügte Bild in seiner Gesamtheit. Aber es trifft zu, dass es sich um mehrere Blicke handelt, weil man das vor Ort ja so erlebt. Weil man sich umschaut, weil man Einzeldinge wahrnimmt.

Der Vorgang des Auf-die-Dinge-Schauens: fehlt der dem Gesamtbild oder macht er es aus? - Kann ich als Betrachter deines zwei Meter großen Bildes die Einzelblicke nachvollziehen?

Ich glaube nicht, dass man sie unmittelbar wiederholen kann, aber durch diese Formate werden die Blicke erschließbar.

Unterstützt da der Detailreichtum der Mittelformatkamera? Der bezwungene Kontrastumfang, in dem alles gut sichtbar bleibt? Die Kontraste weiten sich nicht ins reine Schwarz oder Weiß aus, werden nicht abstrakt, sondern hängen nur von den Gegenständen ab. Und auch die mittlere Brennweite läßt das normale Hinsehen nachvollziehbar werden.

Ja.

Zum Verhältnis zwischen Handeln im Raum: wo ist der Ort des Menschen im Bild? Welche Rolle spielt da die geometrische Perspektivierung?

Die Orte sind nicht total leer, aber Menschen lenken wie gesagt vom Ort ab. Wenn Leute auftauchen, verliert das Bild an Universalität. Denn dann geht es um sichtbare Menschen. Und das subjektiviert.

Aber du als Fotograf subjetivierst doch auch aus deinem Blickwinkel, aus deinem Zugang zum Bildraum.

Das Zeigen des Menschen im Bild erhöht dessen Momenthaftigkeit. Es intensiviert den Moment, in dem Figuren im Bild sich begegnen, sich kreuzen, miteinander agieren. Wenn das fehlt, hat das Dargestellte etwas Übergeordnetes ...

... etwas Grundsätzlicheres ...

... als nur diesen Moment, in dem gerade etwas passiert, in dem z.B. zwei Menschen über eine Straße gehen.

Deine Bilder sollen also nicht belebbar sein. Welche Rolle spielt dann die geometrisch korrekte Zentralperspektive?

Durch die Montage der Einzelbilder stimmt die Perspektive nie hundertprozentig. Perspektive ist ja auch ... - Wenn ich Architektur sehe, so nehme ich das nicht als perspektivische Konstruktion wahr, sondern vielmehr als Gesamtes aus einzelnen Blicken; man fokussiert auf einzelne Punkte, und das Ganze wird nicht konstruiert. Zwar versuche ich, die Perspektive so korrekt wie möglich darzustellen, so dass es nicht falsch aussieht. Aber absolut korrekt muss die Darstellung nicht sein. Das Auge nimmt ja viel an, auch wenn es perspektivisch nicht stimmt. Ich könnte bei jeder meiner Fotografien perspektivische Fehler aufzeigen. Aber wenn man so etwas nicht vermutet, sieht man es auch nicht. Mehr noch: wenn Betrachter wissen, dass es sich bei meinen Bildern um Montagen handelt, und wenn sie dann Momente suchen, an denen sie das festmachen können, dann sind diese Momente oft Sachverhalte im Bild, in denen eigentlich gar keine Widersprüche zur Perspektive vorliegen. Wenn ich sie kontrolliere, stimmen sie meistens. Jeder schaut sich die Dinge anders an und hat ein anderes Gefühl für Perspektive.

Du stellst also die Perspektive in den Dienst des detailvollen Betrachtens?

Im Prinzip, ja. Wenn ich es absolut korrekt darstellen würde, ergäbe das sehr starke Fluchten und Raumtiefen, die die Einzelansichten zu stark überlagerten. Natürlich - manche Motive sind von vornherein problematisch ...

Die Geometrisierung, die sich aus der Verwendung des Weitwinkels an der Großformatkamera mit ihren Verstellmöglichkeiten ergibt, wäre genauso stark wie das Spiel der Helldunkelkontraste der Schwarzweißfotografie?

Ich glaube schon.

Wie stehst Du zu Otto Steinert und Bernd und Hilla Becher?

Bernd und Hilla Becher stehen mir zeitlich näher als Otto Steinert. Fotografie hat immer einen subjektiven Zugang. Und Objektivität ist auch ein Stilmittel. Objektivität kann dargestellt werden. Thomas Ruffs Portraits zeigen die Beliebigkeit auf. Er sagt, er könne nur das Äußere darstellen. Objektivität bringt da auch Austauschbarkeit mit. In meiner Fotografie gibt es allein schon hinsichtlich der Vielzahl an terrain vagues Austauschbarkeit.

Objektivität besteht für dich also in Austauschbarkeit?

Auch. Nicht nur. Es ist eine Darstellungsweise. Ich kann die Dinge absichtlich subjektivieren, durch Akzentuierung, Übersteigerung, durch einen bestimmten Stil, durch eine bestimmte Art der Manipulation. Dass sich aber meine Bilder eins zu eins dem Betrachter erschließbar machen sollen, ist in dieser Hinsicht ein Verzicht auf diese Stilmittel des Subjektiven.

Objektivität wäre dann die Erschließbarkeit des Bildes und Nachvollziehbarkeit des Sehens?

Ja. Objektivität im Sinne einer Dokumentation, aber doch wähle ich subjektiv den Ausschnitt, blende vieles anderes aus.

Was sind die Stilmittel der Dokumentation?

Architekturfotografie hat primär den Zweck, etwas zu dokumentieren. Etwas hinsichtlich seiner Funktion darzustellen, z.B. wie bei Becher und Becher, denen es darum ging, den Gegenstand zu zeigen und dessen Funktion. Man soll die Form verstehen, im besten Falle auch deren Funktion. Becher und Becher suchten ja auch den besten Aufnahmewinkel zum Sichtbarmachen des Charakteristischen im Formalen und im Funktionalen.

Aber in den Bildern der Peripherie fehlt ja eigentlich die Funktion. Sind diese Bilder dokumentarisch?

Sie sind dokumentarisch. Früher bestand die Titelgebung z.B. in der Angabe von Orten und Straßen, weil ich sagen wollte, wo konkret die Bilder entstanden. Das ist mir immer noch wichtig, denn die Bilder haben durch ihre Reduktion auf den Ort Beliebigkeit, und man soll ja keinen persönlichen Stil an ihnen festmachen können. Gleichzeitig aber unterscheiden sie sich aufgrund ihres Detailreichtums. Es hat diese beiden Aspekte im Bild.

Aber die Funktion eines Ortes wird doch nicht mehr geschildert. Hier in peripher 130 (Berlin), 2005, mit dem rotem Himmel: dieser Ort hat doch keine Funktion mehr.

Die Funktion: man kann sich aufhalten, spazieren ....

Aber das unstrukturierte Weiß des Schnees verhindert doch schon die Begehung, oder? Das ist doch ein recht geschlossenes Weiß. ich sehe da keine Wege. Abstraktheit, fehlende Handlungsmöglichkeiten. Das gilt mir auch für den Himmel, in den die kahlen Bäume ausgreifen. Die Lampen sind auch zu hoch. Das zeigt gar keine Heimeligkeit. Was habe ich nachts im Schnee unter einer solchen Lampe verloren?

Dann könnte man sagen, dass meine Fotografien auch die Funktionslosigkeit von Orten in Szene setzen?

Wäre das ein Kennzeichen der Peripherie? Funktionslosigkeit?

Peripherie ist die lokale Bezeichnung eines Ortes. Funktionslosigkeit taucht überall auf. In peripheren Orten mehr als anderswo, denn je größer eine Stadt ist, desto schwerer wird sie kontrollierbar, und desto rascher werden Orte nicht mehr gebraucht.

Im Bild von Charleroi gibt es auch keine Funktionen, oder? Selbst das Einparken in den Garagen ist verunmöglicht, denn die Garagen sind zu, der Platz unkrautbewachsen, da ist schon lange kein Auto mehr hineingefahren.

Sicher haben die Orte, die ich spannend finde, ihre Funktion verloren.

Eine Autobahn ohne Autos erfüllt auch keine Funktion.

Es ist absurd, dass sie so breit ist, wenn kaum jemand darüberfährt. Aber das sind auch Dinge, die geplant, aber nicht mehr benutzt werden. Darin liegt jedoch auch eine Chance zur Umnutzung, zu neuen Funktionen. Grundsätzlich geht es mir auch um die Hoffnung, dass es nie ganz vorbei ist.

Was du also an den schottischen Siedlungen kritisiert hast, dass man nicht zu langfristiger Planung fähig war, dass auch die belgischen Siedlungen der Industrie folgten, dass man sich gedankenlos selbst zuschüttet und heute nur noch Schutt übrig bleibt - da siehst du immer noch die Möglichkeit, etwas Sinnvolles entstehen zu lassen?

Ja, schon. In den Großstädten sieht man ja, dass dann spannende Orte entstehen, wenn Geld zur Umnutzung da ist. Es überrascht, wenn ein Ort nicht mehr die gleiche Funktion hat wie früher, und wenn neue Konzepte improvisieren. Wenn ich eine vergleichsweise homogene Sedlung fotografieren will, dann liegt die Langeweile des entstehenden Bildes darin, dass diese Siedlung genau dazu genutzt wird, wofür sie geplant wurde. Ich finde es spannender, wenn die Dinge anders laufen als geplant.

Ein Aspektewechsel.

Ja.

Was überwiegt in deinen Bildern? Urbane Landschaften, Naturlandschaften (http://www.tschersich.ch/peripher27.html)?

Urbane Landschaften. Industrialisierte Gebiete. Natur ist ein Gegenpol, aber das ist für mich nicht zentral. Mir war lange nicht klar, wie man Natur in Bezug setzen kann zu urbanen Orten. Natürlich gibt es im Bild des Breithorns bei Zermatt - peripher 27 (Breithorn), 2005 - und im Bild einer Tankstelle in der Bronx - peripher 110 (New York City), 2005 - eine im Formalen vergleichbare Stimmung. Stimmung ist ja mehr als Farben und Tonalität, es ist ein Gefühl (http://www.tschersich.ch/peripher110.html).

Was ist Stimmung genau?

Ein Gefühl, das man mit etwas Visuellen verbindet. Man scheitert daran, etwas so darzustellen, wie es war, weil man immer nur einen zweidimensionalen Bruchteil, einen kleinen Ausschnitt ohne Ton oder Bewegung wiedergibt. Zeit blendet man in der Regel ganz aus. Vorher und Nachher sind in der Fotografie wichtig, aber beides wird oft vernachlässigt. Das Erlebnis vor Ort ist mehr als die Aufnahme, ein Vielfaches. Ein Foto ist eine Abstraktion des Ganzen. Und trotzdem hat man eine Stimmung, die man wieder mit einem Gefühl verbindet, und jeder verbindet da unterschiedliche Dinge, was ja auch wieder spannend ist. Dass aber in meiner Arbeit eine Abstraktion stattfindet, erachte ich als vorteilhaft, weil ich oft "extreme" Orte aufsuche.

Wo liegen die Ähnlichkeiten in den Bildern der Bronx und der Berge?

Im Vergänglichen, schon erlebbar in der Entstehung. Stückweit reißen Wolken auf, man sieht ins Tal. Was man sieht, wechselt sekündlich, schon im Motiv. Im Bild der Tankstelle ist das ähnlich: Unwirtlichkeit, Kälte, Lebensfeindlichkeit, körperliche Einschränkung.

Andreas Tschersich, ich danke für dieses Gespräch.

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