recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Zu den Werken "Fossat I", "Fossat II" und "Fossat III" von Anna Comellas.

1. Gegenstand

Die Objekte "Fossat I", "Fossat II" und "Fossat III" wurden im September/Oktober 2000 in der Saarbrücker Galerie Marlies Hanstein ausgestellt, zusammen mit einigen anderen Gemälden und Objekten, die sich hinsichtlich ihrer Größe und ihres Materials jedoch von den drei "Fossat"-Stadien unterschieden. Einen Überblick gibt die Netzadresse der Galerie, "http://www.galerie-hanstein.de", unter der die Ausstellung unter dem Menüpunkt "Ausstellung > Archiv > Comellas" eingesehen werden kann. Dort finden wir auch die zu meinen Ausführungen gehörenden Abbildungen.

Neben ihrer Dozententätigkeit für lithographische Verfahren promovierte die 1961 in Manresa bei Barcelona geborene Künstlerin 2000 mit dem Thema "Presencia y aproximatión de la tridimensionalidad en el grabado". Sie bestritt bisher Ausstellungen u.a. in Stockholm, Barcelona, Leuk, Nagoya, Genf, Madrid, Kobe, Buenos Aires, und Hidalgo.

Gehaltvoll, dicht, sind ihre Werke, von denen "Fossat I, II und III" mich besonders beeindruckten, obwohl sie in der Ausstellung eher abseits hingen. In der Mehrzahl wurden großformatigere Objekte gezeigt, bestehend aus Acryl auf Leinwand, Holz und Metall, kombiniert mit polierten wie gravierten Metallplatten, gebrochenen Lithosteinen, Kissen aus Japanpapier mit Metalleinlage und der Verwendung von Glasfasermaterial. Verschiedene Materialien wurden erprobt. In trennendem wie sich durchdringendem, störendem oder harmonierendem, in wegnehmendem wie formendem Spiel zusammengefügt und verdichtet.

Bei den drei Werken "Fossat I", "Fossat II" und "Fossat III" handelt es sich um Objekte der Größe 25 x 25 cm, die 2000 entstanden. Sie bestehen aus einem quadratischen Rahmen mit einem keisförmigen Ausschnitt, in dem sich eine etwas kleinere Kreisscheibe befindet. Die durch diese Aussparung entstehende Ansicht des Untergrundes wurde mit bearbeitetem Metall ausgelegt. Die Künstlerin verwendete die gravierten Druckplatten der Werkserie "Alineaciones" von 1997, auf die im Zusammenhang noch zurückgegriffen werden muß. In den Ansichten der drei "Fossat"-Werke durchdringen sich Farbflächen in den Großtönen Grün ("Fossat I"), Rot ("Fossat II") und Blau ("Fossat III") mit graphischen Elementen in metallischem, graphitartigem Dunkelgrau. Die Großtöne vereinzeln sich hinsichtlich ihres Materials, ihrer Beschaffenheit (flächig vs. pastos) und ihrer Kontrastbildungen in belebende Protuberanzen, Übergewichte, Sedimentierungen. Die Sedimente wiederum stehen im Zusammenhang mit den graphisch-linearen Gliederungen.

An dieser Stelle will ich die Themen und Ziele dieses Aufsatzes abstecken. Die Farbverwendung ist Teil einer innerbildlichen Dynamik des Gegenspieles von Bildelementen. Die Farbverwendung und die linear-graphische Gliederung treten ein in eine physikalische Bewegung des Bildträgers, genauer: der Kreisscheibe. Wesenhaft ist das aktive Spiel des Betrachters mit den Bildelementen - sowohl in der absoluten Positionierung der Objekte auf einer waagerechten oder einer senkrechten Unterlage, als auch in der relativen Positionierung der Kreisscheibe im umgebenden Rahmen. Die linear-graphische Gliederung der Objektoberflächen stellt eine Gliederung der in den Farbflächen gegebenen Dynamisierung dar. Als solche wird dieses Wechselverhältnis als Bild eines anthropozentrierten Kosmos gebraucht. Dieses Bild hat seine Merkmale nicht nur in der Bezugnahme der nachträglichen, linearen Gliederung vorgefundener Farbsedimentierungen als archäologischem Topos. Vielmehr repräsentiert das aktive Spiel des Betrachters mit den möglichen Bewegungen der Kreisscheibe eine anthropomorphe kosmische Gliederung.

2. Beschreibung

2.1. Bewegungen

In "Fossat I" wird der äußere Rahmen wie in "Fossat II" von einem schmalen Durchlaß am oberen Rand durchbrochen. Ein Linienpaar zieht von außen ins Innere des die Kreisscheibe umgebenden Graben. Dieser Graben, auf katalan. "fossat", zu deutsch ein "Burg-" bzw. "Schloßgraben", umgibt die isolierte Kreisscheibe wie eine Insel. Die Kreisform, die dem Außen die geringstmögliche Oberfläche bietet, wird von Frau Comellas eingebuchtet - an der Stelle, an dem das Linienpaar des Rahmendurchbruches auf sie trifft. Die Bucht ist im Vergleich zum schmalen Durchlaß des Rahmens breit und fast senkrecht in die Kreisscheibe eingeschnitten. Sie raubt der Kreisscheibe ein Stück ihrer Substanz, droht die Insel im Innern des Objektes zu erodieren. Diese Beraubung soll aufgehalten werden. Davon zeugen starke, mehrfach ausgeführte, sich nach unten verjüngende Strebelinien. Noch weit über die Breite der Ausbuchtung hinausgehend versuchen sie in vereinter, pausenloser Reihung den Einfluß aufzuhalten. Das Bollwerk befindet sich an der neuralgischen Stelle, nämlich der Stirnseite der Beeinflussung durch das Linienpaar, nicht jedoch an den senkrecht zu dieser stehenden Flankenwänden. Diese senkrechte Stellung der Flanken entwertet diese Buchtseiten, da sie das direktionale Element der Linienströmung flankieren und unterstützen.

Anders in "Fossat II". Hier sehen wir die Flanken nach unten sich erweitern. Die aus dem Einströmen von oben sich gesammelte Dynamik gießt sich jetzt nach unten aus, nachdem sie das labile Gleichgewicht der Kreisscheibe wesentlich stören konnte. Dieses Gleichgewicht ist übrigens noch gar nicht wieder hergestellt: die Ausbuchtung befindet sich gerade nicht in der Lotrechten, wie dies erst in "Fossat III" der Fall ist. Hier, im dritten Objekt, wird die Lotrechte sogar noch betont: Ein dünner, hellgrauer, fast weißer Pfeil strebt mit linearer Exaktheit von unserem nun schmalen, ausgelaufenen Buchtbehältnis quer über die Kreisscheibe hinweg nach oben. Dort gibt es nun freilich weder einen Ausgang, noch überhaupt einen Willen, aus dem äußeren Rahmen auszutreten. Statt dessen setzt Frau Comellas in die Zielgerade des Pfeils eine kleine, in den Eisengrund des Grabens gravierte Kreisform. Die wird ihrerseits wiederum von einer schräg zur Lotrechten stehenden Pfeilform gequert.

Was wurde aus dem Linienpaar, das in "Fossat I" in die kleine Bucht strömte? In "Fossat II" schliert die Dynamik, die die ganze Kreisscheibe in Bewegung versetzte, aus der Bucht in den Graben und perlt zur oberen Rahmenöffnung. Die Bucht selbst ist nunmehr kein Auffangbehältnis mehr für den Linienstrahl, sondern Glocke für noch verbleibende blasenartige Formen, die in die Eisenplatte eingraviert wurden. Ebenso in "Fossat III": dort sammeln sich diese Formen außerhalb der Bucht, können jedoch nicht seitlich nach oben steigen, da sie, der dynamisierenden Pfeilrichtung auf der Kreisscheibe gemäß lotrecht nach oben streben. Weil diese Pfeilform innerhalb der Kreisscheibe bleibt, ist mit einer Assimilation der "Blasen" zu rechnen. Mit einer Aufnahme der in "Fossat I" einströmenden, in "Fossat II" die Kreisscheibe zur Drehung veranlassenden und in "Fossat III" nicht wieder austretenden Dynamik. Um diese Vermutung weiter auszuführen, wende ich mich dem System der weißen Linien zu. Dieses ist vom System der schwarzen Zeichnung zu trennen. Es scheint auch unabhängig von den Farbsedimentierungen zu existieren.

2.2. "Interpretation" als Begriff mit Prozeß-/Produktäquivokation

In "Fossat I" sieht man in der unteren Hälfte des Objektes einen hellen, beige-weißen Strich vom Rahmen, den Graben querend, über die Hälfte der Kreisscheibe laufen. Hier ist der externe Maßstab, an dem die richtige Position der Kreisscheibe zum Einlaß in den Rahmen definiert wird: steht der helle Strich auf der Kreisscheibe mit dem Hellen des Rahmens in Deckung, befindet sich die Einbuchtung der Kreisscheibe genau unter dem Einlaß des Rahmens in der oberen Objektpartie. Die Stellung der Kreisscheibe ist systematisiert - weitere Deckungmaße stellt die Parallelenschar in der linken oberen Objektecke neben der Einbuchtung dar, die ebenfalls den Graben quert. Der Sinn einer solchen einer solchen Funktionalität liegt in der Bildung eines Maßstabes, der als nicht veränderliches Bezugssystem die Variabilität der Objektbestandteile, vor allem der Kreisscheibe, repräsentiert.

Unterstützend für die Thematisierung sowohl konstanter wie variabler Objektfunktionen wirkt der Formkontrast aus Farbsedimenten und Linien, wie das Beispiel der dunklen Linien in "Fossat I" zeigt. Grabenüberquerend kurvt ein Gebilde aus unverfüllter Zeichnung die obere Objekthälfte von "Fossat I". Dieses Gebilde beschreibt ein Kreissegment in gegenläufiger Richtung zur Bogung der Kreisscheibe. Das Kreissegment ist Teil einer größeren Kreisfläche, die mit dunkleren und pastoserem Grünauftrag verfüllt ist. Eine grün-hellbaune Rechteckfläche unter den widerständigen Struktionen gegen den Einfluß von oben überlagert diese zweite Kreisform. Frau Comellas hat an den Grenzen dieser zweiten, nun farblich differenzierten Kreisscheibe graphische Formen dargestellt, die im linken Objektteil an einen archäologischen Grundriß einer Mauerarchitektur erinnern. Deutlich sind noch Strebepfeiler zu erkennen, die jedoch ins Segmentinnere ausladen. Die Frage stellt sich: in welche Richtung bietete diese Mauer Schutz? Ist sie Abschirmung nach außen, das Kreisinnere bergend, oder versuchte sie, den drohenden Einfluß von oben zu dämmen? Denn aufgrund der Homogenität der dunkelgrau-schwarzen Zeichnung der Mauer und des Strebewerks an der Buchtung ist ein Zusammenhang zu vermuten, obgleich eine solch auffangende Mauer, zudem mit den Streben nach innen, wenig Sinn machen würde. Man erwartete ein Ereignis - jedenfalls sieht man in der rechten Objekthälfte statt des Mauergrundrisses ein nachgebildetes Gangsystem, das von unterirdischen Aktivitäten, vielleicht vor einem Feind, zeugt.

Wie immer man auch diese Zeichnung mit eindeutig archäologischen Elementen deuten mag: beabsichtigt ist das akthafte Vorgehen der Deutung selbst. Viele deutsche Begriffe mit der Endung "-ung" und "-ion" besitzen Prozeß-/Produktäquivokation, stellen nicht bloß Resultate von Handlungen, sondern Handlungen selbst dar. Frau Comellas will nicht irgendeine Interpretation als Resultat eines ausgereiften Denkprozesses, sondern einen erwägenden, sich kontinuierlich mit den wahrgenommenen Dingen beschäftigenden Lebensvollzug.

Als initiale Metapher dient die archäologische Erforschung des Bildterrains. Diese erfolgt durch das deskriptive Vorgehen der Grundrißrekonstruktion und durch die schematisch auffassende, invariante Anlage externer Maßstäbe in den hellbeigen, fast weißen Linien. Jene machen die relative Stellung der Kreisscheibe zum Rahmen meßbar. Dem entspricht die Nutzung kinetischer Energie als Methode. Eine Kreisscheibe, die radartig auf der Seite steht, befindet sich in einem nur labilen Gleichgewicht. Das kann jederzeit durch geringen Einfluß gestört werden. Im oberen Objektbereich soll eine ausgeprägte Dynamik mit Hilfe eines wahren Bollwerkes aufgehalten werden. Das gelingt jedoch nicht. Das Gleichgewicht kippt in "Fossat II". "Fossat III" zeigt, daß sich nun das Gleichgewicht stabilisiert hat. Sonst versuchten die Schlieren auf dem Grabengrund nicht, senkrecht hochzusteigen - was ihnen jedoch nicht gelingt, da das Material der Kreisscheibe dichter und schwerer ist als die dünnen, nur flach eingravierten Linien auf dem Grabengrund.

Im Bereich der archäologischen Metapher findet das archäologische Erforschen alsbald ein Ende - bzw. es wird nicht auf alle Sedimente ausgebreitet. In der linken unteren Objekthälfte sieht man hellblaue, ins Türkis changierende, teilweise gebrochene, teilweise reine Farbflächen, die von einem den Graben querenden Streifen satten, dunklen Grüns belagert werden; links daneben, unter dem aufgelegten hellbeige-weißen Strich vom Rahmen auf die Kreisscheibe wechseln sich verschiedene Grünschichten und verschiedener Farbdichte und -helligkeit ab. Dieser Folge antwortet im Innern der oberen, durch die Zeichnung des Mauergrundrisses gegebenen Kreisscheibe das hellbraune Rechteck unter den Struktionen gegen den Einfluß von oben. Das Terrain wurde mehrfach bebaut. Es ist zu vermuten, daß die Oberfläche des Objektes noch nicht eingehend genug erforscht wurde.

Diese Vermutung einer archäologischen Sichtweise wird gestützt von drei weiteren Sachverhalten. Innerhalb des Objektes gibt es den Kreisgraben, der dem Objekt selbst den Namen gab: "fossat". Im Namen klingt schon das defensive Prinzip des Abgrabens von Zugangsmöglichkeiten an, das wir auch in der isolierten, geringgehaltenen Angriffsfläche der Kreisscheibe erkannt haben.

Legt man die drei Objekte "Fossat I", "Fossat II" und "Fossat III" auf einen Sockel oder eine ebene, waagerechte Oberfläche, beispielsweise den Boden, so fällt es schwer, noch ein Vermögen der Drehung der Kreisscheibe zu attestieren. Vielmehr liegt die Kreisscheibe nun mit ihrer größten Oberfläche auf dem Boden und bildet eine Insel, die nicht mehr zu drehen ist. Den angemessenen Betrachterabstand zum Objekt vorausgesetzt, begreift man die archäologische Metapher in ungeheurer Verstärkung, als Luftbildarchäologie. Der Betrachter fliegt über ein Gelände, das gerade gesichtet, rekonstruiert, erforscht und vemessen wird. Das Objekt ist topographischer Informationsträger. Auf dem Grund des Grabens, mit den Mitteln der Technk freigelegt: ältere Sedimente mit Spuren menschlichen Lebens. Und das Bollwerk im oberen Objektbereich ist nun kein Bollwerk mehr gegen den oberen Einfluß. Vielmehr ist die graphsche Form Treppe zu einem Podest, dessen nun abgetragene Position wir im hellbrauenen Rechteck lokalisieren können. Aus dem Widerstand wird Zugang. Aus dem fehlenden Drehungsvermögen der Kreisscheibe resultiert eine stabiler Baugrund sowohl für die Mauerform in der linken, als auch für die Gangform in der rechten Objekthälfte.

Die archäologische Metapher findet also in der Neupositionierung des Objektes gegenüber dem Betrachterstandpunkt eine wesenhafte, objektinterne Vervollständigung. Frau Comellas zeigte sich überrascht ob dieser Möglichkeiten des Zugangs zu ihrem Werk; indes: sie erkannte die Autonomie des betrachtenden Erfassens ihrer Werke an, und zeigte sich auch nicht gerade enttäuscht über das Experiment - vielmehr interessiert sie gerade auch das Feedback des Betrachters.

Der zweite Sachverhalt weist sehr explizit auf eine archäologische Zugangsweise hin: Frau Comellas verwendete die Namen archäologischer Ausgrabungsstätten, die im unteren Objektbereich neben den dunkelgrau-schwarzen Grundrißzeichnungen auftauchen, in der gleichen Farbe, als kurze Bezeichnungen für die Lageskizzen.

Und auch die oben kurz angedeuteten Objekte von 1997 stützen die Archäologiemetapher. Das Objekt "Newgrange" ist das zweite aus einer Reihe von fünf Objekten mit den Namen "Stonehenge", "Newgrange", Alineaciones Gavrinis", "Alineaciones Cahokia" und "Alineaciones Chichén Itzá", allesamt etwa 50 x 25 cm, Lithogrphie und Radierung auf Papier und Filz, in einer Auflage von je 10 Expl., davon je 1 Expl. in der Galerie Hanstein, Saarbrücken.

"Newgrange" zeigt auf feinem, glatten, leicht ocker-grauem Papier Sedimente sandig-gelber, dünner Farbe, die in Rinnsalen vor allem den unteren Bereich bedeckt. In dieser Wüstung sieht man einen rechteckigen Einschnitt, eine Grube, mit schwarzem Filz ausgelegt, bedruckt mit dem hellgrauen Bild des Mondes, der zwischen Voll- und Neumond, also in der Veränderung dargestellt ist. Ein dunkler, ebenfalls mit Filz ausgelegter Schacht führt zur längsoblongen Grube, die ihrerseits am oberen Abschluß von Steinpositionen gerahmt wird. Im oberen Bereich des Objektes wird die regelhafte Anordnung der Gesteinsbrocken in Bezug gesetzt zur Einfallsrichtung des Sonnenlichtes; die Sonne selbst wird symbolisiert durch die uns bekannte Kreisform mit der linearen Querung. Schon in diesem Objekt wird eine kosmische Ordnung auf eine anthropomorphe Weltsicht bezogen - das freie Spiel mit verschiedenen Bildwirkungen indes ist in den drei " ossat"-Objekten ausgeprägter.

3. Archäologiemetapher und ästhetische Welterfahrung

In den "Alineaciones" von 1997 wird der Mensch auf eine vorzeitliche Ordnung bezogen, mit dieser konfrontiert - "Archäologie" stellt hingegen in "Fossat" eine Metapher dar, die Initial für eine spielerisch-simulative Handhabung des Kunstwerkes ist. Darauf kann man die Prozeß-/Produkt-Äquivokation des mythos beziehen: dieser kann nach Aristoteles als "Zusammensetzung von Geschehnissen" verstanden werden (Aristoteles: Poetik, Kap. 6, 1450 a 1-5; Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. 3 Bde. München, 1988. S. 83ff) - in den "Alineaciones" als Produkt der Zusammensetzung, in "Fossat" als die prozeßhafte Zusammensetzung von Handlungen, als Umgang mit Kunst.

Die Philosophie des Aristoteles läßt sich gut auf die "Fossat"-Objekte beziehen. Theoretische Erklärung vorgefundener Sachverhalte versucht, sich auf wesentliche Eigenschaften der Sachverhalte zu konzentrieren und diese zu bereits erkannten Prinzipien in Beziehung zu setzen. Der Wahrheitskontakt ergibt sich aus dem Rückbezug der kohärent strukturierten allgemeinen Eigenschaften des Wahrgenommenen auf die konkreten Einzeldinge. Erkenntnis verfährt also nicht prognostizierend, sondern deskriptiv, die Vergangenheit erklärend. Für eine Veränderung, eine Bewegung der Dinge, gibt es vier mögliche Gründe: formale, materiale, auf den Veränderungsverursacher und auf ein Ziel der Veränderung bezugnehmende Ursachen. Diese causae - Basis eines heute natürlich modifizierten Kausalitätsbegriffes - dienen dazu, das Seiende und seine Zusammenhänge zu gliedern. Die ganze Natur - abzüglich der überkomplexen Welt sittlichen Handelns - kann auf jene Kausalbeziehungen zurückgeführt werden. Wobei die causa formalis prinzipiell erster Untersuchungsgegenstand ist, Zielobjekt der Krone der theoretischen Wissenschaften, der "Metaphysik".

Als "Formalursache" dient die relevante Eigenschaft einer Sache, die Einordnung in ein klassifikatorisches Konzept: zwar stellt es einen scheinbaren Widerspruch dar, daß gerade das materiallose Liniengefüge in den Gräben der drei "Fossat"-Objekte mit den materialhaften dichteren, schwereren Kreisscheiben in bewegende Beziehung treten können. Es liegt hier ein Wechselspiels material gegebener mit nicht-material vorliegenden Objekteigenschaften vor. Gleiches spielt sich ab im religiös-rituellen Gebrauch der material gegebenen Kultstätten mit den großen, unbeweglichen Steinblöcken. Sie stehen in Wechelwirkung mit der materialen Substanzlosigkeit des Sonnenlichtes. Die "Materialursache" hingegen wird von Aristoteles von der metaphysisch nutzbaren Formalursache geschieden. Eine Wissenschaft, die sich auf Materialursachen bezieht, ist Naturphilosophie. Sie kann im Rahmen eines über die Natur hinaus intendierten Wahrheitskontaktes nur wenig behilflich sein.

In der Zusammensetzung, im Umgang mit Kunst wird die Bildstruktur als in sich geschlossener, ganzheitlicher Kausalzusammenhang verstanden - in den "Alineaciones" als fertiger Kausalzusammenhang, dessen externer Sinn uns verschlossen bleibt, da er vorgeschichtlichen Charakters ist und die "Alineaciones" uns menschheitsgeschichtliche Rätsel bleiben. Hier greift die aristotelische Philosophie nur bedingt. Aristoteles betrachtet das Sein in der Veränderung und jede Veränderung hat, außer dem ersten Beweger, eine Ursache und gehorcht bestimmten Prinzipien. Veränderung besteht in den "Alineaciones" in der Konstellation der Gestirne zur irdischen Topographie. In "Fossat" ist jedoch unser akthaftes Handeln als Beweger der Topographie selbst der Kausalzusammenhang. Unsere Tätigkeit bringt das im Werk angelegte Bewegungsvermögen zum Ausdruck tätiger Bildelemente. Unsere sich aktualisierende Tätigkeit produziert dadurch einen stets aktualisierten, ganzheitlichen Kausalzusammenhang. Wir gebrauchen die Archäologiemetapher, um uns unseres eigenen akthaften Handelns bewußt werden und die Objektdinge zueinander in Beziehung zu setzen.

Die Archäologiemetapher zielt auf den Bereich sinnlich-ästhetischer Erfahrung bei religiös-rituellen Anlässen in der Vorgeschichte. Dies ist evident, betrachtet man die archäologische Rekonstruktion von Sonneneinfallswinkeln in den "Alineaciones". Frau Comellas hat dort die glatte, papierne Oberfläche der "Alineaciones" mit Hilfe der Radierung und der Lithographie grundrißhaft strukturiert. Die Druckplatten der Radierung finden wir in den "Fossat"-Objekten wieder, als Auslegematerial des Grabens. Es wird also auch in "Fossat" die sinnliche Erfahrung auf den rituellen Anlaß bezogen.

In "Fossat III" weist der "wissenschaftliche", hellgraue Pfeil direkt auf die von einer Linie gekreuzte Kreisform, die in den "Alineaciones" das Bezugssystem der Sonne repräsentiert. Hierdurch entwickelt sich ein Bezug von einer relativer Position zu einer absoluten. Die gekreuzte Kreisform repräsentiert die Ausrichtung an einem absoluten Maßstab, da die direktionalen Elemente der Form (Linie) über ihr Zentrum (Kreis) hinausweisen. Dies ist hinsichtlich der Kreisscheibe nicht der Fall: der Pfeil tritt nicht über die Grenzen der Kreisscheibe hinaus. Die Scheibe nimmt zwar hinsichtlich der Richtung Bezug auf die gekreuzte Kreisform auf dem Grund des Grabens - gerade dadurch aber, daß keine Weiterführung des Pfeiles über den Randes der Scheibe erfolgt, wird eine überindividuelle Fixierung des Kreises, die z.B. in "Fossat I" anhand der weißen Linien sichtbar ist, unterdrückt.

Der Dualität zwischen der wissenschaftlichen Rekonstruktion der kosmischen Ordnung als Forschungsergebnis und der religiös-rituellen Erfahrung des punktgenau erfaßten, berechneten Sonnenstandes entspricht die Prozeß-/Produkt-Äquivokation des Wortes "Interpretation". Die sinnlich-ästhetische Erfahrung des richtigen Sonnenstandes korrespondiert der sinnlich-ästhetischen Erfahrung der im Werk enthaltenen Bewegungsmöglichkeiten. Die archäologisch freigelegte topographische Ordnung des Terrains entspricht einer verfestigten Interpretation der Objekte als Archäologiemetaphern.

- Erst wenn man jedoch die prozeßhafte Auffassung von Interpretation gegenüber der produkthaften Auffassung berücksichtigt, kann man sich von einem allzu gegenständlichen Verständnis der Objekte lösen, das sich in einer deskriptiven Wissenschaftlichkeit ausdrückt. Dann kann man einen Sinn in der Thematisierung ungegenständlicher, mit dem Lineal oder mit der Waage nicht nachweisbarer Prinzipien finden: der Thematisierung von Bewegung und Kausalität, von Absolutheit und Relativität, von Ablehnung und Begehren. Als Ausgangspunkt hierfür eignet sich die von Frau Comellas gewählte archäologische Metapher hervorragend: angesprochen wird eine vorwissenschaftliche, mythische Erfahrung des Kosmos. In "Fossat" wandelt sich deren Abbildung in aktives, handelndes Nacherleben des mythischen Weltzusammenhanges.

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